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Seele: Warum Symptome etwas Gutes sind

Als ich mit fünfzehn das erste Mal einem Therapeuten gegenüber saß, erzählte ich ihm nicht nur von den Selbstmordgedanken, die mich quälten, sondern auch von den Rasierklingen, mit denen ich mir heimlich die Haut aufschnitt. Danach, warum ich mich verletzte, was dahintersteckte oder wie es angefangen hatte, fragte er nicht. Stattdessen begannen wir bereits in der darauffolgenden Sitzung, Alternativen zu finden. Suchten nach Dingen, die ich stattdessen tun konnte, um den Druck in meinem Inneren und die Anspannung auszuhalten. Dinge, die keine bleibenden Narben auf meiner Haut hinterlassen würden.

Neun Jahre lang lag der therapeutische Fokus darauf, mit dem selbstschädigenden Verhalten aufzuhören, doch nichts, weder die üblichen Methoden aus schnipsenden Gummibändern am Handgelenk oder Eiswürfeln, die man sich auf die Haut drückt, noch Gespräche halfen. Denn jedes Mal, wenn mich etwas aus der Bahn warf, war das Schneiden das, was mir half mit traumatischen Erinnerungen, Angst und alten Verletzungen zurechtzukommen.

In Verhaltenstherapien geht es vorrangig um Symptome.

Es geht um die andauernde Traurigkeit und Lustlosigkeit einer Depression. Um selbstschädigende Verhaltensweisen, Alkohol- oder Drogenkonsum, um das falsche Essverhalten oder um die Tatsache, dass man Schwierigkeiten mit bestimmten Situationen hat.

Zusammen mit dem Therapeuten arbeiten wir darauf hin, trotz Angst zur Arbeit, zur Schule oder Familienfeiern zu gehen. Darauf, nicht mehr sofort zur Flasche oder einer Rasierklinge zu greifen, sobald etwas Schlimmes passiert oder auch ein normales Essverhalten zu entwickeln, statt aus den falschinterpretierten Schönheitsidealen zu hungern. Das Erreichen dieser Ziele wird als Erfolg gewertet und nicht selten als Heilung verstanden.

Doch kann das Verschwinden von unerwünschtem Verhaltensweisen tatsächlich Heilung bedeuten?

Verhaltensweisen, die dir nicht guttun, verändern zu wollen, ist absolut legitim, ja oft sogar notwendig, um mit dir selbst in Kontakt zu kommen. Doch, wenn du dort aufhörst, ist das, was Heilung genannt wird, nichts weiter als eine Oberflächenbehandlung.

Es ist, als würde man den Rost von einem Stück Metall kratzen, statt es endlich aus dem Wasser zu nehmen. Als würde man immer bloß neue Farbe auf eine Wand auftragen, ohne den Schimmel darunter zu entfernen.

Symptome haben einen Grund

Verhaltensweisen oder Kompensationsmechanismen quälen dich nicht einfach so. Sie sind da, weil da eine eitrige Wunde in deinen Inneren existiert, oder – wie Geneen Roth es in ihrem Buch Essen ist nicht das Problem beschreibt – weil da unverdauter Schmerz sitzt, der Stellen in dir verhärtet.

[bctt tweet=“Symptome zeigen, dass etwas nicht stimmt. Sie sind Mechanismen, die entstehen, weil etwas nicht in Ordnung ist.“ username=““]

Und damit sind sie nicht nur Alarmzeichen, sondern vor allem Wegweiser. Denn wenn wir bereit sind, ihnen bis zu ihren Ursprung zu folgen, führen sie uns auf direktem Weg zu der Wunde in uns selbst.

Zehn Jahre lang habe ich gegen meine Symptome gekämpft. Gegen das Verlangen, mir mit Rasierklingen die Haut aufzuschneiden und gegen die Angst, das Haus zu verlassen.

Heute habe ich nicht mehr den Drang, mich zu verletzen. Ich muss keine Medikamente mehr schlucken, um mit Stress, innerer Anspannung oder schlimmen Erinnerungen zurechtzukommen.

Heute kann ich meinen Gefühle folgen, um zu verstehen, was sie mir sagen wollen. Ich kann sie spüren und ansehen, ohne Angst, dass sie mich vernichten.

Wir müssen Symptome nicht bekämpfen. Wir müssen sie verstehen.

Ich bin davon überzeugt, dass Mechanismen dann gehen, wenn wir nicht mehr brauchen. Dass die Symptome, gegen die wir kämpfen, Stück für Stück verschwinden, sobald wir ihren Ursprung kennen und verstehen, dass die Not, die wir spüren, kein schwarzes Loch ist, das uns verschlingen will – sondern eine Wunde, die den gesammelten Schmerz unseres Lebens in sich festhält.

Eine Wunde, die wir ansehen und umsorgen müssen, damit sie heilen kann.

Und damit auch du selbst.

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